Eine ungewöhnliche Freundschaft

Franziska Müller-Trefzer (19) studiert im 4. Semester Chemieingenieurwesen und Verfahrenstechnik am KIT in Karlsruhe. Die leidenschaftliche Akkordeonspielerin, die darauf Wert legt, keine Volksmusik zu spielen, lebte von Oktober 2011 bis März 2012 bei Gertrud Heusel (79) zur Untermiete. Im Interview berichten die junge Studentin und die seit 2011 verwitwete ehemalige Volksschullehrerin und Großmutter von elf Enkelkindern von den Erfahrungen aus ihrer gemeinsamen Zeit.

Frau Heusel, Sie haben bereits vor Ihrer Zeit mit Franziska Erfahrungen mit Untermietern gemacht, würden Sie mir einen kurzen überblick geben?
FRAU HEUSEL: Mein Mann und ich haben immer wieder Studierende und ähnliches genommen, nachdem unsere Kinder ausgezogen waren. Ich habe das einmal zusammengezählt, wir hatten insgesamt 16 Studenten, Praktikanten und andere bei uns in der Mietwohnung. Es waren sehr, sehr unterschiedliche Menschen, die bei uns lebten. Oft haben wir Feuerwehr gespielt.

Frau Heusel wurde 1934 in Brandenburg geboren und lebt seit über 50 Jahren in Karlsruhe. Sie spricht deutlich, nur ab und an rutscht ihr ein badisches „gell“ über die Lippen. Frau Heusel sagt „Fahrradfahren ist mein Leben“ und bringt nach eigener Aussage noch bis zu zehn Kilogramm Einkäufe nach Hause, das Laufen bereite ihr da eher Schwierigkeiten.

Warum möchten Sie auch weiterhin in Ihrem – mit Verlaub – höheren Alter eine Untermieterin haben?
FRAU HEUSEL: Wir haben dreifach verglaste Fenster, eine vollisolierte Tür, manchmal komme ich mir da fast vor wie in einem Käfig, auch weil ich leider lieber drinnen bin als draußen. Was meinen Sie, was ich alles mache, wenn ich in die Badewanne steige? Fenster kippen, damit man mich rufen hört und das Telefon neben die Wanne legen. Außerdem hat ein Hausbewohner einen Wohnungsschlüssel. Das sind alles für mich auch Gründe, weshalb ich gerne wieder jemanden reinnehmen würde. Es ist ein Stück Sicherheit. Aber an allererster Stelle steht für mich, Wohnraum anzubieten, wenn man ihn nicht braucht. Zum Glück habe ich dabei auch die Unterstützung des verständnisvollen und sehr sozial engagierten privaten Hausbesitzers.

Aus ihrem Lebenslauf hört man heraus, dass Sie und auch Ihr Mann schon immer einen Sinn für das Soziale hatten. Vielleicht ist es auch das, was Sie als Vermieterin für Jüngere qualifiziert?
FRAU HEUSEL: Franziska, was sagst du dazu?
FRANZISKA: (lacht) Das kann ich durchaus so stehenlassen. Das einzige war vielleicht, dass Sie sich am Anfang doch relativ viele Sorgen um mich gemacht haben, aber das kann ich Ihnen auch nicht verübeln. Irgendwann haben Sie mich einmal um 0 Uhr angerufen und gefragt ob ich nach Hause finde. Dabei war ich nur zwei Straßen entfernt. Aber das ist ja auch klar, wenn man mit jemandem zusammenlebt, muss man sich auch ein Stück aufeinander einlassen. Für mich war es selbstverständlich, Bescheid zu geben, wann ich komme und gehe.

Frau Heusel und Franziska haben sich seit nunmehr einem knappen Jahr nicht mehr gesehen, wirken aber nach wie vor vertraut. Die Sympathie ist deutlich zu spüren. Sie lachen zusammen und spielen sich im Interview gegenseitig den Ball zu. Franziska siezt, Frau Heusel duzt. Die Studentin erzählt, in der gemeinsamen Zeit mit Frau Heusel habe sie ihren Kommilitonen immer erklärt, sie wohne bei ihrer Großmutter.

Frau Heusel, Sie haben vorhin erklärt, Sie hatten bereits 16 Personen, die in Ihrem Haushalt lebten...
]Frau Heusel steht vom Sofa auf, sucht in der Schublade ihrer Schrankwand einen Zettel, auf dem sie alle Namen und die Zeiträume, in denen Gäste bei Ihr im Haushalt lebten, fein säuberlich aufgeschrieben hat. Unter diesen Personen finden sich ein äthiopier, ein Kolumbianer, drei irische Praktikanten, zwei kleine Mädchen aus Eritrea, ein späterer Bürgermeister und ein Student, der ganze acht Jahre im Hause Heusel verbrachte. Heusel hat jeden Namen parat und kann zu jedem eine kleine, anrührende Anekdote erzählen. Wie beispielsweise die Geschichte von Fanny aus Paris, die kurz vor Franziska bei ihr war.
FRAU HEUSEL: Fanny hat ein Praktikum beim KIT gemacht als Agraringenieurin. Sie erzählte mir, sie habe sich sehr um eine Bleibe bemüht, aber nichts gefunden. Also rief ihr Vater seinen Jugendfreund in Hessen an, mit dem er über die Jahre guten Kontakt gehalten hatte. Beide waren um die 70. Diesen fragte er, ob er nicht helfen könne, etwas für Fanny zu finden. Der Herr aus Hessen suchte im Internet heraus wo das KIT zu finden ist und rief schließlich bei der katholischen Pfarrei in Rintheim an. Die sagten dort: „Ja, wir haben eine Nummer, eine Frau hatte für den katholischen Kirchentag ein Zimmer angeboten.“ Das war ich. Die Pfarrei stellte den Kontakt her und so kam Fanny zu mir.

Sie hatten über die Jahre auch viele ausländische Mieter, hatten Sie da keine Berührungsängste?
FRAU HEUSEL: Für mich ist deutsche Herkunft kein Kriterium für ein Zusammenleben. Erst kürzlich begegnete ich in der Bahn einem rumänischen Studenten, der mir erklärte, er habe allein aufgrund seiner Nationalität große Probleme gehabt, ein Zimmer zu finden. Das darf doch nicht wahr sein. Es gibt so viele Leute in meinem Alter, die so vieles wissen, was nicht gut läuft und sich einschalten könnten, aber man rechnet sich andauernd aus „warte mal, geht das zu meinem Nachteil aus?“ So bleibt vieles, was verbesserungswürdig wäre, auf der Strecke.

Haben Sie beide in ihrer gemeinsamen Zeit zusammen Dinge unternommen?
FRAU HEUSEL: Nein, eigentlich gar nicht.
FRANZISKA: Doch, einmal sind wir zusammen zur Wahl gegangen. Da war es spiegelglatt und Frau Heusel fragte mich, ob wir gemeinsam gehen könnten. Ab und an haben wir auch gemeinsam zu Abend gegessen.
FRAU HEUSEL: Meistens warst du morgens auch früher dran als ich, ich meine immer so zehn vor halb 8 hast du die Tür bei mir aufgemacht und gesagt „Tschüss, Frau Heusel.“ Da wusste sie, ich lebe noch, ich wusste, dass sie da war, das gab mir eine unwahrscheinliche Sicherheit. Franziska hat in unserer Zeit viel gekocht, in der Küche lief einiges. Ich habe es auch sehr genossen, dass Franziska ab und an Freunde mitbrachte, mit denen ich mich gut verstanden habe.

Franziska, wie war es denn für dich, was die Privatsphäre anbelangt?
FRANZISKA: Ich denke, irgendwann braucht man einfach sein eigenes Reich, aber für den übergang war das wirklich in Ordnung. Sie haben ja auch nie in meinen Sachen rumgestöbert, sondern einfach manchmal ein Fenster aufgemacht oder einen Wäscheständer mit meiner Wäsche reingestellt. Ich denke, da spielt das Vertrauen eine große Rolle, man muss sich einfach verstehen.
FRAU HEUSEL: Ich erinnere mich noch, wie eine meiner Enkelinnen meinte: „Also ein Zimmer, in dem jeder durchlaufen kann, das wäre nichts für mich.“ Aber für mich war das schon sehr wichtig, gerade im Erdgeschoss muss ich den überblick behalten. Ich dachte mir aber auch immer, ich muss nicht alles wissen. Das ist wie in jeder Beziehung. Jeder muss seinen Freiraum behalten dürfen. Das ist mir auch wichtig.

Frau Heusel lädt jetzt zu Tisch, hat Schnittchen und Brezeln besorgt. Man setzt sich zu einer kurzen Pause zusammen und plaudert frei von der Leber weg über Gott und die Welt. Nach einer halben Stunde wird das Diktiergerät wieder angeschaltet und die ehemaligen Mitbewohner stehen wieder Rede und Antwort.

Franziska, du hast ja vorhin erzählt, dass du Instrumente spielst. Hast du hier musiziert?
FRANZISKA: Ja. Ich habe zwar nicht täglich geübt, aber zumindest immer vor den Konzerten. Das war aber auch eine Voraussetzung für mich. Ich weiß, dass es nicht flüsterleise ist, aber ich bin auch anpassungsfähig und spiele natürlich nicht zu Unzeiten oder in der Mittagsruhe. Das war jedenfalls eines der Hauptprobleme, als ich eine WG gesucht habe, obwohl ich erklärte, dass ich auf jeden Fall Rücksicht nehmen würde.

Wie war das denn, wenn du unterwegs warst? Das war aber nie ein Problem, wenn du auch mal später gekommen bist?
FRANZISKA: Manchmal wurde es wirklich sehr spät, ich hatte aber ja einen Schlüssel und konnte jederzeit rein. Natürlich habe ich aber vorher Bescheid gegeben.
FRAU HEUSEL: Kann es sein, dass ich manchmal nachts nach dir gesehen habe?
FRANZISKA: Ja. Wir haben es dann irgendwann so gemacht, dass Sie einen Kleiderbügel an die Garderobe gehängt haben und ich meine Jacke darauf hängte, wenn ich heimkam. So wussten Sie, dass ich daheim bin, wenn Sie nachts einmal aufgewacht sind. Man guckt halt nach einander. Das ist doch ganz natürlich.

Nach über zwei Stunden ist die Runde immer noch erheiternd, Frau Heusel zeigt keine Müdigkeit, brennt für das Projekt und auch Franziska möchte für die Sache eintreten. Immer wieder schweift man vom Thema ab, unterhält sich offen und angenehm. „Wenn ich gebraucht werde, auch um anderen zu helfen, sich zu orientieren, das gefällt mir auf jeden Fall“, ergänzt Frau Heusel zwischendurch.

Frau Heusel, Sie sagten vorhin, es helfe ja auch fit zu bleiben, wenn jemand bei Ihnen lebt. Sie sind es ja, wie sie es geschildert haben, auch immer gewöhnt gewesen, dass jemand da ist ...
FRAU HEUSEL: Ja. Schon als ich während des Studiums im Wohnheim lebte, hieß es, ich würde andere bemuttern. Aber darum geht es nicht, es geht auch nicht ums Geld. Das Ganze hat für mich einen ungeheuren ideellen Wert. Ich bin nicht selbstlos auf die Welt gekommen, aber heutzutage denke ich mir einfach manchmal „das ist gut, das machst du jetzt so.“ Gerade als man jünger war, dachte man soviel darüber nach, was wohl die anderen denken und traute sich so vieles nicht. Mittlerweile merke ich immer mehr, wie unwichtig das ist.

Stellen Sie sich vor, Sie würden direkt eine Runde von Menschen ansprechen, die Wohnraum übrig haben. Was würden Sie ihnen sagen, warum sie ihren Wohnraum zur Verfügung stellen sollten?
FRAU HEUSEL: In erster Linie, um die Wohnungsnot unter Studierenden zu verringern. Zweitens erweitert es den Horizont erheblich, mit jüngeren und anderen Leuten zu tun zu haben. Und drittens lebt man disziplinierter, man weiß, wofür man noch lebt, dass man für etwas lebt. Und vor allen Dingen, wenn man älter ist, dass man erkennt, was man in den Grenzen, die einem körperlich und geistig gesetzt, sind immer noch weitergeben und anderen zugute kommen lassen kann. Ich weiß jetzt noch nicht, ob es mit meiner nächsten Untermieterin gutgeht, aber es ist den Versuch wert. Wenn nicht, dann hat es eben nicht sollen sein.
FRANZISKA: Was ich noch sagen kann: Ich hab mir ja auch mehrere Wohnungen angeguckt, teilweise unter dem Dach mit zwei Schrägen oder ohne Kochmöglichkeit. Das hat hier bei Frau Heusel immer wunderbar funktioniert. Das war absolut die beste Wahl für uns.
FRAU HEUSEL: Wir haben nichts abgesprochen, glauben Sie mir. (lacht)
FRANZISKA: Ich fand es gut, dass ich hier auch meine Freiheiten hatte. Klar habe ich mich angemeldet und gefragt, ob ich Freundinnen mitbringen kann, aber das hätte ich zu Hause ja auch so gemacht.
FRAU HEUSEL: Gerade auch der Kontakt mit deinen ausländischen Kommilitonen hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Ich denke, es ist wichtig, dass man, egal wie alt man ist, immer wieder seine Antennen ausfährt. Ich lese auch sehr viel, in erster Linie Lebenserfahrungen. Einfach alles, was so aus dem richtigen Leben kommt, aber die interessantesten Erfahrungen macht man doch selbst. Ich bin sicher, es gibt viele vergleichbare Wohngemeinschaften ganz im Verborgenen. Auch ich bin am liebsten „unter vier Augen“, aber zu diesem Interview habe ich ja gesagt, um andere in ähnlicher Lage zu ermutigen.

Als das Diktiergerät abgeschaltet ist, beginnen Frau Heusel und Franziska über die Familie zu reden, Frau Heusel holt eine kleine Kiste mit Fotos und zeigt Franziska ihre Enkel. Wie groß diese doch geworden seien, bemerkt Franziska. Wir verabschieden uns und schleichen uns aus der Wohnung, um die beiden nicht zu stören. Aus einer Wohngemeinschaft ist eine Freundschaft geworden – mit 60 Jahren Altersunterschied!